banner dbg - DIE BESTEN GEDANKEN
DIE BESTEN GEDANKEN AUS KUNST, LITERATUR, PHANTASIE

WERNER HEIDUCZEK
"DER KLEINE HÄSSLICHE VOGEL"


Werner Heiduczek (Autor)
Wolfgang Würfel (Illustrationen)
Der kleine hässliche Vogel

Eine Bilderbucherzählung
Der Kinderbuchverlag Berlin 1973,
6. Auflage 1981

neu aufgelegt ca. 2006
von der Mitteldeutschen Zeitung
und dem Verlag "Faber & Faber Leipzig"
in der Rubrik
"Unsere Kinderbuch-Klassiker"A
Buchdeckel von "Der kleine hässliche Vogel"

Vorbemerkung
Da diese Geschichte in meinen Augen eine der lesenswertesten moderneren Fabeln überhaupt ist, erlaube ich mir, sie hier in voller Länge vorzustellen. Die Illustrationen kann ich natürlich nicht mit einbeziehen. Doch sie sind so sehenswert, dass es sich schon aus diesem Grund lohnt, das Buch zu kaufen.

Dieser kleine hässliche Vogel wird von den anderen Vögeln verstoßen, tags darf er sich nicht bei ihnen blicken lassen. So singt er heimlich nachts, der Mond hört ihm zu, erzählt es der Sonne, die will ihn auch hören und wird traurig, als das nicht geht. Sie zieht sich die Wolken vors Gesicht und es regnet auf der Erde.
Die Vögel überlegen, wie sie die Sonne wieder zum Lachen bringen können …

Nebenbei sei auf den Habicht aufmerksam gemacht, dessen Charakter mit so faszinierenden Satire gezeichnet ist, dass dieses Kinderbuch auch für Erwachsene lesenswert ist.
Bei Vorstellungen des Buches fand ich ihn als "böse" bezeichnet.
Das ist falsch. Niemand, kein Vogel ist in diesem Buch böse. Sie denken sich nur nichts dabei, wenn sie den hässlichen Vogel ausschließen.
Der Habicht ist erst recht nicht "böse" - er ist strohdumm!
Er ist eine der besten Karikaturen auf gedankenlose Menschen, die ich kenne.
Er plappert nach, was man ihm sagt, er tut, was man ihm sagt, nur eines kann er nicht: Selbst denken.

Am Ende dieser Seite schreibe ich, warum ich diese Geschichte für doppelt traurig halte.


Die Geschichte:
Es war einmal ein kleiner Vogel. Er war hässlich. Noch hässlicher als schmutziger Schnee. Er saß allein auf einem Baum. Der war alt und hatte keine Blätter mehr. In den schönen grünen Baumkronen saßen die anderen Vögel. Und wenn der kleine Vogel zu ihnen wollte, da gab es großes Geschrei. Er war wirklich ein hässlicher Vogel. Selbst die Hunde liefen fort, wenn sie ihn sahen. So saß er allein auf seinem Baum, und manchmal weinte er und sagte: „Ach, wäre ich doch ein schöner Vogel. Wenn man hässlich ist, ist das Leben hässlich. Und wenn man schön ist, ist das Leben schön. Ach, ich armer, hässlicher kleiner Vogel.“

Aber er sagte es ganz leise. Denn niemand wollte ihn hören. Nur nachts, wenn die anderen Vögel schliefen, machte er den Schnabel auf und sang ganz leise, damit er die anderen in ihren Nestern nicht weckte. Und das klang so schön, dass die Gräser unter dem alten Baum sich im Schlaf hin und her wiegten und dass die Sterne die Wolken fortschoben und zu ihm hinabschauten. Der Mond aber jammerte und sagte: „Ach, was für ein Unglück. Warum bin ich gerade jetzt nur halb. Einen so schönen Vogel habe ich noch nie gehört.“ Und er blieb stehen und wollte gar nicht weiter über den Himmel gehen und sagte immerfort: „Was muss das nur für ein schöner Vogel sein, wenn der so schön singt. Nein, so ein schöner Vogel.“

Es war ein alter Mond. Und deswegen sagte er immer dasselbe. Aber der kleine Vogel hörte es gern. Und weil soviel Freude in ihm war, sang er noch schöner. Die beiden verstanden sich ganz gut. Der Mond und der Vogel. Ich glaube, sie liebten sich. Wenn der Mond fortging, wurde der kleine Vogel ganz stumm. So eine Sehnsucht hatte er. So kam es, dass die Sonne den kleinen Vogel nie hören konnte. Und sie hätte ihn so gern gehört. Denn wenn der Mond ihr für kurze Zeit begegnete, erzählte er, was für einen schönen Vogel er doch gehört hätte. Er erzählte jeden Tag dasselbe. Er war wirklich ein alter Mond. Die Sonne aber wurde von Tag zu Tag trauriger. „Ach, wäre ich doch keine Sonne“, sagte sie. „Ein Mond hat es viel besser.“ Und wenn sie sich für den Tag schön machte, sah sie in den Spiegel und sagte: „Was nützt mir all die Schönheit, wenn ich das Lied nicht hören kann. Ich werde sterben und habe den kleinen Vogel nicht gehört.“

Und weil die Sonne traurig war, war auch der Tag traurig. Er wickelte sich in nassen Nebel und nieselte vor sich hin. Und weil der Tag traurig war, waren auch die Bäume traurig und die Häuser und die Vögel und die Drähte und die Antennen. Es war überhaupt eine traurige Welt. So konnte es nicht weitergehen.

„Flieg durch die Wolken“, sagten die Vögel zum Habicht, „und frag die Sonne, was los ist. Schließlich ist Sommer. Und wenn Sommer ist, ist Sommer. Und da hat sie sich dran zu halten. Wie sollen unsere Jungen fliegen lernen, wenn sie solche verrückten Sachen macht. Nein, so was. Was die sich nur denkt?“

Und der Habicht flog durch die Wolken und fragte die Sonne: „Was ist mit dir los ? Schließlich ist Sommer. Und wenn Sommer ist, ist Sommer. Wie sollen unsere Jungen fliegen lernen, wenn du solche verrückten Sachen machst ?“ „Ach“ , sagte die Sonne. „Ich habe ein krankes Herz und werde sterben.“

„Ja, ja“, sagte der Habicht und machte ein trauriges Gesicht. Denn er war ein kluger Habicht und dachte, wenn die Sonnen jammert, muss ich mitjammern, das schmeichelt ihr, denn sie ist eine schöne Sonne. „Wenn ich sterbe, müsst ihr auch sterben“, sagte die Sonne. „Ja, ja“, sagte der Habicht. Und sein Gesicht war noch trauriger. Was für ein dummer Habicht, dachte die Sonne. Dem macht das Sterben nichts aus. „Aber ich will nicht sterben“, sagte sie. „Ich auch nicht“, sagte der Habicht, „meine Jungen können noch nicht fliegen.“ „Was redest du dann so dummes Zeug“, sagte die Sonne.

Und der Habicht sagte: „Ja, ja. Was rede ich nur für dummes Zeug. Entschuldige, ich bin ein dummer Habicht. Lassen wir also das Sterben, und machen wir wieder unsere Arbeit. Mach du den Tag schön, und wir wollen unsere Jungen fliegen lehren.“

„Das kann ich nicht “, sagte die Sonne. „Mein Herz ist krank und meine Sehnsucht zu groß. Ich muss den kleinen Vogel singen hören. Dann kann ich wieder den Tag schön machen.“ „Wenń´s weiter nichts ist“, sagte der Habicht. „Ach, wie willst du es wohl besorgen?“ sagte die Sonne. „Du kannst ja nicht einmal singen. Alle Mäuse laufen in ihre Löcher, wenn sie dich schreien hören. Wie willst du das wohl besorgen ?“ „Lass mich nur machen“, sagte der Habicht, „wenn die Erde sich einmal gedreht hat, hörst du den kleinen Vogel singen.“

Und er flog wieder durch die Wolken zurück und rief alle Vögel und sie machten eine Versammlung. Auch der kleine Vogel kam. Denn er dachte: Es muss wohl eine wichtige Versammlung sein, wenn sie von überall herkommen, vom Wald und vom Fluss, von den Bergen und vom Meer, vom Feld und vom Sumpfgras. Da darf ich nicht fehlen, bei einer so wichtigen Versammlung. Und er kam und sagte: „Guten Tag.“

Aber keiner hörte ihn. Nur der Pfau spreizte seine Federn und schrie: „Was willst du denn hier, du hässliches Ding? Man wird ja, nein, man wird ja ganz melancholisch wird man.“ „Nun lasst ihn schon“, sagte der Habicht, schließlich ist er ja auch ein Vogel.“ Und da der Habicht zur Sonne geflogen war und Rat wusste, wie sie wieder zum Leuchten gebracht werden sollte, hörte man auf ihn. Und der kleine Vogel blieb da. Er setzte sich ganz nach hinten unter eine Distel und bedeckte mit den kurzen Flügeln seine Beine, denn er fror auf der kalten Erde.

Der Habicht aber fing an. „Vögel“, rief er , und es wurde ganz still. Man hörte, wie die Blätter aneinander rieben, so still war es. Das gefiel dem Habicht, und er rief gleich noch einmal: „Vögel!“ Aber es konnte nicht mehr stiller werden. Den Blättern war es gleich, was er rief. „Die Sonne hat ein krankes Herz“, rief der Habicht, „und ihre Sehnsucht ist zu groß. Sie kann erst den Tag wieder schön machen, wenn sie den kleinen Vogel hat singen hören.“

„Welchen kleinen Vogel?“ fragte die Lerche. „Es gibt so viele kleine Vögel.“ „Ich weiß es auch nicht“, antwortete der Habicht. „Wir müssen eben jeden singen lassen.“

Und alle kleinen Vögel mussten vortreten und ihr Lied singen. Die Meise sang und der Fink und das Rotkehlchen und der Zaunkönig. Selbst der Spatz musste vortreten. Aber all diese Lieder kannte die Sonne schon. Ihre Sehnsucht blieb und so auch ihre Traurigkeit. Und der Tag nieselte weiter vor sich hin. Es war wirklich ein trauriger Tag. Nichts wollte helfen. Und die Vögel fingen an den Habicht zu beschimpfen, weil sie glaubten, er hätte sie betrogen. Ja, der Adler war so zornig, dass er zum Habicht hinflog, ihn packte und ihn töten wollte.

„Töte mich nicht“, bat der Habicht. „Es ist alles so, wie ich es gesagt habe. Wenn du mich tötest, ist alles verloren.“ Aber der Adler hörte nicht auf das, was der Habicht sagte. Er flog mit ihm auf einen hohen Felsen und wollte den Habicht ins Meer stürzen. Der Habicht hatte große Angst. „Gib mir die Stunde Zeit bis zum Abend“, bat er. „Wenn ich bis dann den kleinen Vogel nicht gefunden habe, magst du mich töten.“

„Gut“, sagte der Adler. „Ich gebe dir die Stunde. Hast du bis dahin den Vogel nicht gefunden, stürze ich dich ins Meer.“ Und er brachte den Habicht wieder zurück zu den anderen Vögeln.

Der Habicht setze sich auf einen Stein und dachte nach. Aber so sehr er auch nachdachte, es fiel ihm nichts ein. Seine scharfen Augen gingen noch einmal über alle Vögel hin. Alle hatten sie gesungen, und doch war die Sonne fortgeblieben. Er sah auch den hässlichen kleinen Vogel unter der Distel. Der hatte nicht gesungen. Der kann mir auch nicht helfen, dachte der Habicht, ein Spatz singt schöner als der. Es blieb nur noch wenig Zeit. Der Habicht ließ seine Flügel fallen, senkte den Kopf und wartete auf seinen Tod.

Der kleine Vogel sah, wie der Habicht dasaß, und es wollte ihm das Herz abdrücken. Der Schmerz des Habichts bereitete auch ihm Schmerz. Er flog unter seiner Distel hervor und setzte sich zum Habicht auf den Stein. „Sei nicht traurig“, sagte er. „Wie soll ich nicht traurig sein“, sagte der Habicht. „Ich habe den kleinen Vogel nicht gefunden, der die Sonne zum Leuchten bringt. Und in wenigen Minuten wird mich der Adler ins Meer stürzen.“ „Wie kann ich dir helfen?“ fragte der kleine Vogel. „Es kann mir keiner mehr helfen“, antwortete der Habicht. „Alle Vögel haben schon gesungen, und ich weiß keinen Ausweg mehr.“ „Ich habe noch nicht gesungen“, sagte der kleine Vogel. „Ach du“, sagte der Habicht. „Was willst du schon singen? Du bist so hässlich, wie kannst du da die Sonne zum Leuchten bringen?“ „Lass es mich versuchen“, sagte der kleine Vogel.

Ich muss so und so sterben, dachte der Habicht. Also soll er singen. Und der kleine Vogel saß auf dem Stein neben dem Habicht und sang. So schön sang er, dass sich die Wolken zerteilten und die Sonne auf die Welt schien. Das Gras hörte auf, sich zu wiegen und die Blätter hörten auf, aneinander zu reiben. Alle Vögel saßen da und hielten den Kopf zur Seite.

Der Habicht musste weinen. So glücklich war er, und er schämte sich wohl auch. Noch glücklicher aber war der kleine, hässliche Vogel. Er war wirklich ein hässlicher Vogel.
(Hier ist die Geschichte zu Ende.)


Bis hierhin ist die Geschichte traurig und schön.
Sie ist "einfach" traurig.

Nein, sie ist „doppelt traurig".
Die ganze doppelte Traurigkeit der Geschichte enthüllt sich erst, wenn man bedenkt, wie es dem kleinen hässlichen Vogel wohl für den Rest seines Lebens ergangen wäre, wenn er nicht hätte so schön singen können.

Männliches Denken ist Denken in Leistungsbegriffen.
Väter lieben ihre Kinder oft sozusagen "leistungsabhängig".

Mütterliches Denken und Empfinden kennt den Begriff der bedingungslosen Liebe: unabhängig von Schönheit oder Leistung lieben zu können, auch den Menschen lieben zu können, der etwas schlimmes gemacht hat, der hässlich ist oder faul, der behindert ist, der selbst keine Liebe geben kann.

Die Tragik einer Liebe, die an Bedingungen geknüpft ist,
erlebte Max Planck: Erst als der "Taugenichts", sein jüngster Sohn, im 1. Weltkrieg gefallen war, begriff Max Planck, wie sehr er ihn geliebt hatte und wie sehr er ihm fehlte.
_________________________
  Anmerkung
Die Abbildung könnte noch von dem Buch sein, das inzwischen bei einem meiner beiden Kinder gelandet ist und die ich damals mal eingescannt hatte.

Auf meine Anfrage an "Faber&Faber", diese Geschichte hier weiter veröffentlichen zu dürfen, erhielt ich in einer Mail vom 20. 11. 2006 die Erlaubnis, zusammen mit der Bitte, zu erwähnen, dass dieses Buch im oben genannten Verlag erschienen ist.
Leider gibt es den Verlag Faber & Faber inzwischen nicht mehr, er hat lt. Wikipedia (eingesehen im Februar 2025) im Oktober 2023 Insolvenz angemeldet.
Auch in der Mitteldeutschen Zeitung findet man dieses Kaufangebot nicht mehr.