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QUERDENKER (FRÜHER AUCH KETZER GENANNT) IN WITTENBERG

WIE DIE GALLIER

Friedlich windet sich die B107 von Gräfenhainichen in Richtung Nordwesten. Autofahren könnte so schön sein, wenn es da nicht dieses kleine Dörfchen JüdenbergA1 gäbe, das seinen Widerstand immer noch nicht aufgegeben hat. Wie bei Asterix und Obelix  kämpfen hier Bürgermeister  und Bürger seit Jahren und Jahrzehnten (seit Anfang der 90er Jahre) gegen die römische Besatzungsmacht - pardon, gegen die Behörden des eigenen Landes.

Was hat das mit den Autofahrern zu tun? Die sollen in Jüdenberg zur Rücksichtnahme auf Fußgänger gezwungen werden, wahlweise durch eine Ampel oder eine Tempo-30-Zone oder  - als die Behörden erklärten "Das geht gar nicht." - durch einen Fußgängerüberweg, im Volksmund gern "Zebrastreifen" genannt. Eine von den drei Möglichkeiten zur "Verkehrsberuhigung" wollten die Jüdenberger, der Zebrastreifen war die Version, die "am wenigsten unmöglich" war.
Also konzentrierten sie sich in den vergangenen 18 Jahren auf den Fußgängerüberweg.

Die Ablehnungsgründe sind kurz erklärt: die Situation entsprach nicht den Vorschriften. Autos kamen genug vorbei, das Problem war, dass es zu wenige Fußgänger gab. Es gibt eine Bushaltestelle im Ort, vorwiegend für die Kinder, die zur Schule gefahren werden müssen. Man weiß, dass Kinder schnell mal vor oder hinter einem Bus auf die Straße rennen. Es gibt auch alte Leute, die - auch das ist allgemein bekannt - nicht so reaktionsschnell sind, wenn da ein schnittiger Audi mit 60 Stundenkilometern um die mitten im Ort liegende Kurve der Bundesstraße brettert.

Vermutlich gab es in den Jahren, die der Kampf bisher gedauert hat, mehrere brenzliche Situationen - aber zum Glück ist bisher noch nichts passiert. Noch "liegt das Kind nicht im Brunnen".
Die Jüdenberger wurden trotzdem nicht sorglos, sie kämpften unermüdlich weiter. In diesem Krieg mit den Behörden  griffen sie schließlich zu einer außergewöhnlichen Aktion: eine angemeldete Demonstration im Ort blockierte die B107 für eine halbe Stunde, mitten im Freitags-Nachmittags-Berufsverkehr. Das sorgte   natürlich für überregionale Aufmerksamkeit.  Während dieser Aktion rollte Ortsbürgermeister Wolfgang Zemelka zum Jubel der übrigen Dorfbewohner einen handgebastelten Filz-Zebrastreifen an der Stelle aus, an der er einmal Wirklichkeit werden soll, direkt vor der Kita des Ortes:

                                      Foto vom Zebrastreifen aus Filz

(Das Foto habe ich der MZ online vom 11.09.2015 entnommen und stark verkleinert, so dass die Personen nicht mehr erkennbar sind. Fotograf ist Herr Klitzsch.
Der Bericht der MZ von dieser Aktion ist nachlesbar unter:
www.mz-web.de/.../demo-in-juedenberg-bundesstrasse-107-wird-blockiert~ »externer Link«)


"Die Fronten sind verhärtet." schrieb die MZ  noch im Februar 2016, um dann im Juli 2016 zu verkünden: "Geschenk im Doppelpack".
Denn nun gibt es den offiziellen Bescheid, dass der Fußgängerüberweg in Jüdenberg bewilligt wurde.
Man kann sich natürlich darüber streiten, ob hier wirklich ein "Geschenk" vorliegt oder ob es sich nicht gar um eine "erpresste Herausgabe" eines Zebrastreifens handelt.

Etwas anderes ist jedoch inzwischen passiert - ich zitiere die MZ online vom 07.06.2016:
(www.mz-web.de/.../dorffest-juedenberg-geschenke-im-doppelpack~ »externer Link«)Vielleicht wird aus dem Fußgängerüberweg vor der Kita noch eine Tempo-30-Zone. In Deutschland soll künftig nämlich vor Schulen, Kitas, Krankenhäusern und Seniorenheimen generell Tempo 30 gelten. Eine Initiative für eine entsprechende Änderung der Straßenverkehrsordnung haben die Verkehrsminister der Bundesländer im April beschlossen. Mit der neuen Regelung sollen die Verkehrssicherheit vor allem für Kinder und Ältere sowie der Lärmschutz verbessert werden. Bisher habe bei der Einrichtung von 30er-Zonen nachgewiesen werden müssen, dass es sich um Unfallschwerpunkte handelt.______________
Anmerkung A1
Jüdenberg gehört seit dem 01.01.2007 zur "Stadt Gräfenhainichen". Mit der Gebietsreform im Kreis Wittenberg gibt es seit dem 01.01.2011 nur noch "Städte" im Kreis: alle Dörfer, Gemeinden, Flecken wurden  zu insgesamt neun "Städten" (Einheitsgemeinden, die alle das Stadtrecht besitzen) per Gesetz zusammengefasst. In diesem Sinne gibt es verwaltungstechnisch keine "Dörfer" mehr im ganzen Kreis.
Das hat zur Folge, dass auch ganz dorfspezifische Dinge nicht mehr von den Dorfbewohnern, sondern an "höherer Stelle" entschieden werden, vor allem verkehrstechnischen Fragen. Bundesstraßenverkehr geht vor Dorfinteressen. Ein Fußgängerüberweg kann dann nicht einfach von der Dorfgemeinschaft angelegt werden, das wäre ein böswilliger gesetzeswidriger Eingriff in den Straßenverkehr.
Wie böse es ausgehen kann, wenn sich kleine Verwaltungsflecken Amtshandlungen einer Zentralmacht anmaßen, hat übrigens Rudyard Kipling in seiner kleinen Geschichte "Das Dorf, das beschloss, die Erde sei flach." hinreißend komisch beschrieben.